Johann Georg Grienseyßen und die einäugige Stute
„...und um die Liese kümmerst du dich, wenn ich nicht mehr bin!“ Johann Georg Grienseyßens Worte kamen leise aber vollkommen klar aus seinem Mund. „Das ist mir wichtig, weil die Liese, die hat mir nicht nur das Leben gerettet, die war auch die ganzen Jahre auf meiner Seite. Nicht viele waren das. Nur Elisabeth, meine gute Frau, Johann Georg, mein lieber, lieber Sohn und du, mein bester Freund und Gevatter Johann Friedrich. Ja, und natürlich die Liese.“
Johann Friedrich Bayern nickte und tätschelte die abgemagerte, von blauen Adern durchzogene Hand seines Freundes. Die Liese war Grienseyßens Pferd, eine alte, einäugige, schwarzbraune Stute, die später, nach seinem Tod, in der Inventarliste seines Eigentums gerade mal mit 15 Gulden angegeben wurde. Grienseyßen stöhnte. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen, hatte zahllose Gebete gesprochen und sein Testament gemacht. Nun konnte der Tod kommen. Aber so leicht machte es ihm der Tod nicht. Er ließ ihn warten. Und so lag er also da in seiner Bettstatt, wartete und dachte zurück an sein Leben, das hohe Posten und Ehren für ihn ebenso bereit gehalten hatte, wie tiefe Niederlagen.
Ein Spruch fiel ihm ein: Der Frömmste kann nicht in Frieden leben wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt! Das Drama seines Lebens.
15 Jahre hatten ihn, den ehemals markgräflich-ansbachischen Beamten die Verleumdungen seiner Nachbarn gekostet. Dabei war er doch eine hochangesehene Respektsperson gewesen!
1657 war er in eine gehobene Beamtenfamilie hineingeboren worden, die sogar ein Familienwappen führen durfte und fast dem Adel gleichgestellt war. Er durchlief eine gute Ausbildung, besuchte die Fürstenschule in Heilsbronn. Mit 27 Jahren heiratete er Elisabeth, die 6 Jahre ältere Witwe des kürzlich verstorbenen Stadtvogts von Langenzenn und übernahm dessen Posten. Als Elisabeth ihm ein Söhnchen schenkte, war sein Glück vollkommen. Der Bub wurde nach seinem Vater Johann Georg genannt.
Grienseyßen kaufte nach und nach verschiedene Liegenschaften: ein Haus in Langenzenn, den Herrenhof in Retzelfembach, den Gänsehof in Raindorf und noch einen Hof in Hausen. Sein Erfolg und der damit einhergehende Reichtum passte allerdings nicht jedem.
„Der Grienseyßen presst den Menschen ihr Land ab!“ so sagten die Leute. Doch das nach dem 30jährigen Krieg verödete, mit Unkraut und Disteln überwucherte Land war ja auch so gut wie nichts wert. Alles lag seit Jahrzehnten brach.
„Da war kein Rain und auch kein Stein (Grenzstein)!“ so drückte Grienseyßen es selbst aus.
Er war ein ebenso strenger wie gerechter Herr. Er setzte Bestandsbauern ein, die das Land wieder auf Vordermann brachten und gute Erträge erwirtschafteten.
Ja, aber es war damals nicht anders als heute. Neid und Missgunst sind starke Triebfedern. Statt sich zu freuen, dass es nach den langen Kriegsjahren endlich wieder aufwärts ging, missgönnten seine Nachbarn Grienseyßen den Erfolg. Die Brüder Leonhard und Andreas Körber aus Hausen, sowie die Brüder Andreas und Conrad Hirschmann aus Raindorf beschuldigten den Vogt, er habe unrechtmäßig Land an sich gerissen.
Die Klage begann 1714 mit einer Forderung von 65 Gulden, die Grienseyßen nicht bezahlte, war er doch sicher im Recht zu sein. Die Forderungen wurden schnell höher und höher. Schriftstücke und Ortsbegehungen häuften sich.
Verleumdungen und Rechtfertigungen flatterten hin und her, zum Markgrafen nach Ansbach, zum Fürsten Pückler nach Burgfarrnbach, zur Geistlichkeit nach Bamberg, zum Deutschordenskomtur nach Ellingen. Von Amts wegen wurde verzögert und hinausgeschoben. Auch wenn der Beschuldigte alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen widerlegen konnte, so war ein Ende des Streites nicht abzusehen.
Und das Volk war auf der Seite der Anschuldiger.
Sicherlich war der Vogt Grienseyßen ein harter Mann. Doch hätte er ein so hohes Amt wie das des Stadtvogtes bekleiden können, wenn er nicht das nötige Durchsetzungsvermögen gehabt hätte? Schließlich war er zuständig für alle Verwaltungsfragen, war Richter in Gerichtssachen, war der offizielle Vertreter des Staates und des Markgrafen.
Und sicher ist auch, dass der Vogt Grienseyßen stets seinen Degen an der Seite trug, wenn er ausritt. Aber in den damaligen unsicheren Zeiten tat das jeder, der eine Waffe tragen durfte.
Doch Volkes Meinung war gegen ihn. Er war verschrien als der böse Vogt Grienseyßen.
Grienseyßen seufzte. Sein Leben war ein Kampf. Doch seine Liese war immer an seiner Seite gewesen. Ein unmerkliches Lächeln trat auf seine blutleeren Lippen. Die Liese war auf dem Hof in Hausen geboren worden. Ein schwächliches dunkelbraunes Fohlen, das zu wenig Hoffnung berechtigte. „Nicht zu verkaufen“, der fahrende Rosshändler wollte die Liese nicht haben. So blieb sie auf dem Hof. Sie entwickelte sich besser als gedacht und wurde zu einem guten Reitpferd, zu Grienseyßens Lieblingspferd. Mehr als 20 Jahre hatte sie ihn durch die dunkelste Zeit seines Lebens begleitet. Die Anschuldigungen der Nachbarn hatten viele Ritte nach Ansbach, Nürnberg, Burgfarrnbach und Bamberg nach sich gezogen. Immer war es die Liese gewesen, die ihn auf ihrem Rücken sicher hin und wieder zurücktrug. Sogar als seine Widersacher zu gewinnen schienen und er fliehen musste um dem Gefängnis zu entgehen, hatte sie ihn in sein selbst gewähltes Exil nach Wien gebracht. Und später wieder zurück nach Langenzenn.
Als seine Frau Elisabeth starb, hatte Grienseyßen die darauffolgende Nacht im Pferdestall verbracht, hatte sich an den warmen Körper der Stute gedrückt und geweint. Niemand außer der Liese hatte ihn jemals weinen sehen. Aber bei der Liese war das Geheimnis seines weichen Kerns unter der harten Schale gut aufgehoben.
Als Johann Georg, sein einziger Sohn, Ende Juni 1726 auf dem Sterbebett in Ansbach im Spital lag, da hatte die brave Liese ihn auch dorthin getragen. Mit umgehängtem Hafersack stand sie stundenlang und wartete. Und wieder war die Liese die Einzige, die auf dem Heimweg nach Langenzenn seine Tränen zu sehen bekam.
Während der Streit um seinen angeblichen Grundstücksraub mit unverminderter Härte tobte, verlor Grienseyßen seine Familie, seine Frau und seinen erst 40jährigen Sohn.
Und eines Tages dann, als er auf der Liese über seine Ländereien ritt, passierte es, dass er auf seine Kontrahenten traf, auf die Brüder Andreas und Conrad Hirschmann. Unversehens flogen scharfe Worte hin und her. Der Conrad beschimpfte den Grienseyßen als einen gemeinen Dieb, was dieser selbstverständlicherweise nicht auf sich sitzen ließ. Während das Wortgefecht zwischen den beiden Männern immer hitziger wurde, der Conrad seine Beschimpfungen hinauf zum Grienseyßen brüllte, der auf dem Rücken seiner Stute saß, hatte sich sein Bruder Andreas zur Seite geschlichen und eine Mistgabel ergriffen. Mit weit ausholender Bewegung schleuderte er sie auf Grienseyßen. Die Liese sah die Bewegung aus den Augenwinkeln, sie wieherte wild und scheute. So kam es, dass die Mistgabel nicht den Grienseyßen traf, sondern die Liese. Viel Blut lief an ihrem Kopf herunter und tropfte auf den Acker. Sie schrie zum Gotterbarmen vor Schmerzen, während der Übeltäter und sein Bruder wie die Hasen davonliefen. Grienseyßen saß ab, beruhigte das Tier so gut es ging und führte die Liese nach Hause. Der Pferdeknecht wollte die Stute von ihren Schmerzen erlösen doch der Vogt ließ es nicht zu. „Die Liese hat mir mein Leben gerettet, jetzt rette ich ihres“, so seine Aussage. Die Liese wurde von einem Wundarzt versorgt, sie bekam nur den besten Hafer und wirklich, sie erholte sich. Das Auge war nicht zu retten, doch Grienseyßen wusste sie mit den Zügeln und mit Worten zu dirigieren. Sporen hatte er sowieso nie gebraucht. Bald waren die beiden wieder, wie früher unterwegs und sie wurden als „Der Grienseyßen und seine einäugige Stute“ zur Legende.
Noch Jahrzehnte nach seinem Tod wollen Langenzenner ihn in einen grünen Mantel gehüllt auf der einäugigen Stute gesehen haben. 15 Jahre hat es gedauert bis der Vogt Grienseyßen rehabilitiert war. Endlich, endlich, nach dieser langen Zeit, wurde er von all den angeblichen Vergehen freigesprochen, die ihm üble Nachrede vorgeworfen hatte. Endlich, endlich konnte er frei von allen Vorwürfen ein zufriedenes Leben führen. Konnte er? Nein, leider konnte er das nicht, denn seine Schwiegertochter, die mittlerweile wieder verheiratete Witwe seines Sohnes, verklagte ihn auf Herausgabe ihres Erbes. Dieser mehrere Jahre dauernde Prozess gab Grienseyßen den Rest. Er konnte, er wollte nicht mehr. Schließlich versöhnte er sich mit Catharina Margaretha Rothkeppel, verwitwete Grienseyßen, geb. Günzel aus Lehrberg und stimmte zu, ihr 200 Gulden aus seinem Nachlass zu überlassen.
Als er am Nachmittag des 10. Juni 1732 starb, vererbte er sein Vermögen seinem Bruder Johann Wolfgang Grienseyßen, Hochfürstlich-Ansbachischer Verwalter in Geyern und seinem Freund Johann Friedrich Bayern, Hochfürstlich-Pücklerscher Amtmann in Burgfarrnbach.
Außerdem verfügte er, neben seiner Frau und seinem Sohn beigesetzt zu werden.
Die „Standesehre“, die damals so etwas wie ein Lebensleitmotiv war, hat Grienseysens Leben bestimmt. Er hat es nicht anders haben wollen. Aber dass er auch heute noch als „böser Vogt“ und „Grund- und Boden-Dieb“ bei den Menschen verschrien ist, das hat er nicht verdient.

Johann Georg Grienseyßen (*1657 - +1732) Vogt in Langenzenn von 1685 bis 1712
Das Testament von Johann Georg Grienseysen befindet sich im Stadtarchiv Langenzenn Band 85
Hier werden sein Hab und Gut genau ausgewiesen und einem Wert zugerechnet, somit historisch genau dokumentiert.
Unter Anderem wird aufgeführt:
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1 Schwarzbraune Stute mit einem Bleßlein 6 Jahre alt
40 Gulden
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1 Brauner Wallach 6 Jahre alt
15 Gulden
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1 Schwarzbraune Stut 9 Jahre alt
20 Gulden
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1 Schwarzbraune Stut, einäugig
15 Gulden
Im Testament unter Punkt 4 ist zu lesen: … bleibt es wegen des Holzes am Dillenberg bey dem mit Herrn Ambtmann Bayern zu Burgfarrnbach dißfalls errichteten Kaufs-Contract ohnveränderlich.
Margit Begiebing hat im Mai 2024 die historischen Ausarbeitungen von Berta Winter, einer Nachfahrin von Johann Georg Grienseyßen, in einer Geschichte aufgearbeitet.