Der Lindenzweig
Nahe bei Langenzenn stand vor Zeiten eine alte Linde. Unter ihrem breiten Blätterdach versammelten sich zur Abendstunde gerne die Buben und Mädchen der Umgebung, um sich an Tanz und Gesang zu erfreuen.
Einer spielte die Fiedel und das junge Volk schwang sich zum Klange der alten Weisen fröhlich im Kreise.
Doch eines Abends – es war im Frühsommer 950, die Sonne stand noch hell leuchtend am Himmel und Gewitterschwüle lag über dem Land – da sahen die fröhlichen Tänzer plötzlich einen Troß Reiter näherkommen.
Es waren Ritter in funkelnden Rüstungen; die waren von der Straße abgebogen und sprengten geradewegs auf die Linde zu.
Nun wären die überraschten Tänzer gerne geflohen, aber ehe sie sich recht besinnen konnten, hielt der Troß schon in ihrer Nähe.
„Laßt euch nicht stören! Tanzt! – Tanzt!“ befahl der vorderste Reiter. Aber die Bauernjungen und Maidlein kamen nicht aus dem Erstaunen; denn sie mochten sich´s nicht zu erklären, warum solche vornehme und edle
Herren Gefallen an ihren dörflichen Spielen finden konnten und eigens ihretwegen von der Straße abritten.
Da sprengte einer aus dem Gefolge herzu, - der ernsteste unter allen! – ein Ritter in dunkler Rüstung mit stechenden Augen und einem schwarzen Knebelbart. Der zischte von seinem Roß herab: „Wird´s bald – he! – Habt ihr nicht gehört, was euch der Kaiser befohlen hat?“
„Der Kaiser?“ – Der Kaiser?“ ging´s raunend von Mund zu Mund; „Kaiser Otto ist das, den sie den Großen nennen?“ O, er war der höchste Herrscher im Lande; ihm gebührte Demut und Ehrerbietung.
Da vergaßen mit einem Mal alle auf Tanz und Gesang und verneigten sich tief und etliche knieten nieder auf die Erde, um dem Herren des Landes den schuldigen Gehorsam zu erweisen.
Der aber achtete gar nicht auf sie; denn seinem Pferde war ein Mückenscharm zugeflogen, der den Kaiser umsummte und nicht weichen wollte, obgleich der edle Reiter mehrmals mit der Hand nach dem aufdringlichen Geschmeiß schlug.
Das hatte einer der Bauernburschen beobachtet. Er richtete sich jäh auf, griff zu einem Lindenast empor und riß einen Zweig herab. Den reichte er dem Kaiser auf sein Pferd. „Gnädiger Herr – nehmt dies, um euch der lästigen Mücken zu erwehren!“ sagte er ruhig und blicke dem Kaiser freimütig in die Augen.
Otto beugte sich zu ihm nieder und nahm den Lindenzweig aus der Hand des Bauernburschen.
„Du bist wahrhaftig unerschrocken!“ sagte er; „willst du deinen Mut an größeren Taten erweisen, so komm mit mir als mein Knappe! Hier diesen Lindenzweig sollst du zu deinem Ruhm und als Zier im Wappen tragen. Aus welchem Ort bist du gebürtig?“
„Aus Seckendorff!“ antwortete der Bursche und seine Lippen bebten vor Freude.
„Gut! – So sollst du künftig Seckendorff heißen und deinem Kaiser ein treuer Gefolgsmann sein!“
Da aber stand plötzlich der dunkle Ritter neben dem Kaiser und flüsterte ihm zu: „Majestät! – Was tut Ihr? Er ist ein Bauernknecht wie diese da; ihm geziemt, demütig vor Euch auf den Knien zu liegen. Stattdessen erhebt Ihr ihn über seinen Stand hinaus!“
Der Kaiser wandte sich lächelnd dem Tadler zu. „Gewiß, - Demut muß ich fordern“ sagt er, „doch nötiger brauche ich solch ranke junge Gerten, damit ich mich von dem lästigen Geschmeiß meiner Feinde befreien kann. Ehrerbietung will ich loben. Lohnen aber will ich – die Tat!“
Damit ritt Otto der Große von dannen und der Jüngling zog als sein Knappe mit ihm.
Nach Jahren kehrte er als Ritter von dem Heerzug aus Welschland zurück und wurde der Stammherr eines Geschlechts, das im Wappen einen Lindenzweiglein trug und stark erwuchs und blühte, gleich jenem alten Baum dort auf der Tanzwiese bei Langenzenn.

Entnommen aus:
Helden, Gespenster und Schalksnarren. Sagen aus Franken von Franz Bauer Dritte Auflage 1954